Die lebende Leinwand (10/2010)

Heute habe ich von einer Freundin eine sehr große Leinwand geschenkt bekommen.

Diese war so sperrig, dass sie nicht durch die Wohnungstür passte. Deshalb spannte ich sie auf der Terrasse in einen Rahmen und ließ sie dort von der Sonne bescheinen. Während ich mich auf meiner Gartenliege rekelte und überlegte, was ich damit anfangen könnte, obwohl ich weder Farben noch Pinsel im Haus hatte, geschah etwas Wunderbares:

Auf der gerade noch leeren Leinwand entstand eine wogende, duftende Blumenwiese aus rotem Mohn. Die zarten Blätter leuchteten im Sonnenlicht, es gesellten sich königlich blau strahlende Kornblumen hinzu, dann schneeweiße Margeriten und schließlich satte grüne Gräser. Alles wog sich im Takt einer langsamen Musik, den der laue Sommerwind über die Leinwand zu blasen schien.

Meine Kindheit stieg vor mir auf:
Diese herrliche, unbeschwerte Ferienzeit auf dem Lande, als die Sommer noch heiß waren und ich wochenlang barfuß umher laufen konnte. Als wäre es gestern, spürte ich den warmen Sand und die von der Sonne erhitzten Steine unter meinen Fußsohlen. Das Tollen über die saftige Wiese kühlte diese anschließend wieder.

Die Erinnerung der kitzelnden Gräser an meinen Beinen auf der Wiese, wo einzig und allein diese drei Blumenarten wuchsen, wurde lebendig. Die eine blühte stets in einem flammenden Rot, die andere in einem leuchtenden Blau und die Kleinste in unschuldigen Weiß. Schon als Kind hatte ich gespürt, dass mein Glück die Natur sein würde.

Dann hörte ich ein Summen und sah, dass sich Bienen auf die Leinwand setzten und den Nektar einsammelten. Farbenprächtige Schmetterlinge flatterten von allen Seiten herbei, ließen sich auf den Blütenkelchen nieder, so dass diese leicht dem Erdboden entgegen sanken, nur um ganz plötzlich wieder empor zu schnellen, als die Schmetterlinge sich erhoben und zu den nächsten Blüten flogen. Schon wuchsen an den Seiten der Leinwand Bäume heran, an denen sich der Efeu empor schlängelte und in deren sanften Schatten Büsche wuchsen, die orange Früchte trugen. Vögel ließen sich leise in den Bäumen nieder, beäugten einen Moment die Früchte und stürzten sich dann darauf, um sich an ihnen zu laben. Schon flogen sie zurück zu ihren Nestern und sangen ihre Lieder. So begrüßten sie die Abendsonne, die ein letztes Mal die Wiese in ein leuchtendes Farbenmeer verwandelte, bevor es dunkel wurde. Dann war Schweigen.

Lächelnd erwachte ich auf meiner Gartenliege.

Ob dieser Traum ein Morgen kennt?

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